Letter 6 // Tanzen

Ein Brief an das Tanzen.

Letter 6 // Tanzen
Four dancers, Edgar Degas in 1899. National Gallery of Art in New York City.

Liebes Tanzen,

Wie wahrscheinlich jedes Kind tanzte ich gern. Riesige Bedeutung hat Tanzen für mich mit der Weihnachtsserie „Anna“ bekommen. Ballettschulen haben nach der Ausstrahlung sicherlich überall regen Zuwachs erlebt, auch ich durfte einmal die Woche bei der Volkshochschule an die Stange. In der Zeit dazwischen las ich Bücher übers klassische Ballett, hörte Tschaikowskis Schwanensee und träumte vom Tutu. Mein ersten blassrosa Ballettschuhe waren mein ganzer Stolz, noch heute habe ich den Geruch ihrer Ledersohle in der Nase.

Ich erinnere mich nicht, wann und warum meine Beziehung mit dem Ballett endete. Das heiß ersehnte Paar Spitzenschuhe bekam ich nie, ebenso wenig wie die Ballettstange in meinem Zimmer. Die Trauer – falls überhaupt vorhanden – habe ich weggetanzt. Es folgten Jazz Dance und rhythmische Sportgymnastik. Ein lila Band, ein gelber Ball, die Fahrt zu einem Wettbewerb, ein erster oder zweiter Platz, Auftritte in der Schule, ein selbst genähtes Outfit mit buntem Rock und bauchfreiem Oberteil, eine Lehrerin mit Vorliebe für softe Rockmusik.

Mein erstes Tanzen im Club kostete mich dagegen viel Überwindung. Bei einer Schuldisco am Nachmittag während eines Schulaustausches in Frankreich wagte ich meine ersten Bewegungen auf der Tanzfläche. Ich trug Jeans, ein blau-weißes Oberteil mit Vichy-Muster sowie eine Kette mit einer riesigen Sonne, die Band Police sang „Roxanne“.

Die Erinnerung an meine letzte Tanzgruppe ist löchrig. Ich, ein oder zwei Freundinnen sowie meine Tante, das Modell, denn die war mit der Lehrerin befreundet. Wir tanzten Chorografien nur für uns und aus Freude an der Bewegung. „Fastlove“ von George Michael war gerade erschienen und der Soundtrack für unsere Dienstagabende.

Mit dem Ende der Schulzeit endete meine Zeit in Klassen und Gruppen. Getanzt wurde im Club, bis auch diese Ära zu einem Abschluss kam. Tanzen wurde von der Selbstverständlichkeit zu Sporadischem: mit Kopfhörern in meinem kleinen Zimmer im Schweigekloster und Tanzpausen in meiner Berliner Küche während des Schreibens meiner Bücher. Tanzen heute: zusammen mit einer Dreijährigen zur Kinderplayliste.

Tanzen, ich vermisse dich, aber weiß nicht, wie und wo ich dich wieder in mein Leben hole. Wenn ich ungehemmt und unbeschwert mit einem Kind und den wildesten Bewegungen umherhüpfen kann, kann ich das auch in einem anderen Rahmen tun, oder?! Ich werde – anders als in der Vergangenheit – nicht nur vom Tanzen träumen, sondern einen Platz und Raum zum Tun finden.

Noch nicht wieder im eigenen Takt,
F.