Letter 1 // Live life deeply
Ein Brief an das schreibende Ich.
Liebe Franziska,
du hast lange nicht geschrieben. Fast fünf Jahre sind vergangen, seit du zuletzt etwas auf deinem Blog veröffentlich hast. Beinahe genauso lange, seit du einen Brief oder eine Postkarte verschickt hast. Du hast das Schreiben vermisst, aber die Worte blieben aus.
Erst die Tage hast du jemandem erzählt, dass du nach zehn Jahren dein Blog gelöscht hast. „Warum hast alles ausradiert?“ fragte sie. „Weil ich Abstand dazu gebraucht habe, wie ich mit dem Schreiben auf dem Blog Geld verdient habe.“, sagtest du. Die Pause sollte nie so lange andauern, aber das Leben hatte andere Pläne.
Als du als Kind Briefe geschrieben hast, hast du es nicht als Schreiben betrachtet. Du hast an die Verbindung zu der Person gedacht, die deinen Brief erhalten würde, und an all die Dinge, die du mitteilen wolltest. Über die Jahre wurden aus Briefen E-Mails. Während deines Jahres in den USA hast du digitale Post in großen Mengen an deine Familie geschickt und dadurch die Verbindung gehalten. Viele dieser E-Mails hast du ausgedruckt und aufbewahrt. Papierlos war damals noch kein Thema und ist es bis heute nicht für dich. Du liebst dein hellblaues Briefpapier und die Freude, die das Bekleben eines Umschlags mit hübscher Briefmarke und das Verschicken eines Briefes bereitet.
Auch beim Start deines Blogs ging es dir nicht ums Schreiben. Du hast dich für den Ausdruck über das geschriebene Wort entschieden, weil er dir vertraut war und weil du wusstest, dass du mit deinen Worten Verbindungen schaffen kannst.
Warum erzähle ich dir das? Weil du dein Schreiben nie als besonders oder wichtig erachtet hast – du hast es einfach genutzt, um Verbindungen zu schaffen. Deshalb möchte ich dich ermutigen, wieder zu schreiben. Schreib für dich und für die Verbindung zu dir selbst. Schreib, um deinen Rhythmus wiederzufinden und um eine Routine aufzubauen.
Zwei Dinge möchte ich dir in Erinnerung rufen:
Erinnerst du dich an die Französischlehrerin, die über „prendre sa place“ sprach? Deinen Platz einnehmen. Du warst tief bewegt von diesem Ausdruck. Welchen Platz möchtest du einnehmen und ausfüllen? Lass dich von deinem Schreiben auf diesem Weg leiten und begleiten.
In der Schule hast du die Initiationsgeschichte „Live Life Deeply“ von Jessamyn West gelesen. Obwohl du die Handlung schnell wieder vergessen hattest, blieb dir das von der Protagonistin geschriebene Gedicht lange im Gedächtnis. Jahr für Jahr hast du es in deinen Kalender geschrieben, um dich an das Sentiment und die Stimmung zu erinnern:
“Life may be compared to a glorious sea and human beings to bathers. Some wade in ankle deep, some to their waists, and some all over. Let us not hesitate in the shallows of life, wet only to the ankles, but plunge bravely in. Let us live life deeply. Out where the breakers crash.”
[„Das Leben kann mit einem herrlichen Meer verglichen werden, und die Menschen mit Badenden. Einige waten nur bis zu den Knöcheln hinein, andere bis zur Taille, und wieder andere stürzen sich ganz hinein. Lasst uns nicht im seichten Wasser des Lebens zögern, nur bis zu den Knöcheln nass, sondern mutig hineinspringen. Lasst uns das Leben tief und ganz leben. Dort, wo die Wellen brechen.“]
Die Lehrerin fragte euch damals: „Warum dorthin schwimmen, wo die Wellen brechen?“ Eine Mitschülerin antwortete: „Weil es dort am meisten Spaß und Freude macht.“
Vergiss nicht, deine Freude zu finden – und stürze dich mutig hinein.
Live life deeply,
F.